Ich habe einen deutschen Freund ohne sogenanntem Migrationshintergrund, dessen Eltern ebenfalls keinen Migrationshintergrund besitzen und deren Eltern nicht, etc. Sie sind also das, was andere als „Ur“-Deutsch oder „Bio“-Deutsch bezeichnen (beides Begriffe, die ich nur ungern benutze).
Er ist nun mit einer Frau verheiratet, die zwar hier in Deutschland geboren ist, deren Eltern aber in den 1960er Jahren aus Korea nach Deutschland kamen.
Mit ihm unterhielt ich mich mal über Integration und über die Definition von Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei fiel er aus allen Wolken, als ich ihm vorlas, wie das statistische Bundesamt Personen mit Migrationshintergrund definiert:
„Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählen […] alle in Deutschland mit deutscher Staatsangehörigkeit Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.“
[Quelle: DESTATIS Statistisches Bundesamt: Personen mit Migrationshintergrund, abgerufen am 01.08.2014]
Seine Frau hatte schon als Kind den deutschen Pass erhalten, war allerdings bei ihrer Geburt noch südkoreanische Staatsbürgerin. Damit sind nach obiger Definition auch die Kinder meines Freundes Personen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Migrantenkinder.
„Nein!“ rief er verärgert, „Meine Kinder sind Deutsche!“
Ich gab ihm recht.
„Natürlich sind deine Kinder Deutsche.
Nur, der deutsche Staat sieht das anders.“
Ich versuche mir gerade den Stammbaum einer deutschen Familie vorzustellen, deren Wurzeln über Jahrhunderte in die deutsche Gesellschaft reichen – und dann heiratet da jemand einen Menschen, der bei Geburt in Deutschland kein deutscher Staatsbürger war – und schon sind die Kinder keine einfachen deutschen Kinder mehr, sondern deutsche Kinder mit Migrationshintergrund.
Damit machen wir aus deutschen Kindern Ausländerkinder!
Denn machen wir uns nichts vor. Die breite Öffentlichkeit sieht in dem Migranten und Zuwanderer eher den Ausländer als den Deutschen. Deswegen heißt es ja auch immer „wir Deutsche und ihr Migranten“.
Wenn Medien (Zeitungen, TV, Radio, Internetseiten) immer undifferenziert von Deutschen und Migranten berichten, dann verstärkt sich der Eindruck, es gäbe hier zwei klar unterscheidbare Gruppen. Deutsche und Migranten. Deutsche und Nichtdeutsche. Damit konstruieren wir künstliche Gruppen, die völlig unnötig sind.
Denn die Kinder meines Freundes wissen noch gar nicht, dass sie – statistisch gesehen – Migrantenkinder sind. Die Eltern haben es ihnen noch nie erzählt, und auch für ihr bisheriges Umfeld war das bislang noch nie ein Thema. Warum auch?
Aber: Das große Kind kommt nun aufs Gymnasium.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich in die 5. Klasse kam. Außer mir war da noch ein anderer Junge mit koreanischen Eltern. Als wir zu Beginn des Schuljahres von einem Lehrer gefragt wurden, was wir denn wären, sagte der andere Junge ohne zu zögern, er sei Deutscher. Ich dagegen antworte automatisch, ich sei Koreaner. Die Antwort meines Klassenkameraden hatte mich aber völlig irritiert, weil ich – rückblickend betrachtet – überhaupt nicht wusste, was das eigentlich zu bedeuten hat. Deutscher sein, Koreaner sein. In den 1970er Jahren lebte ich noch mit dem Glauben, dass es unterschiedliche Völker und Rassen gäbe. Der Beweis war ja mein Aussehen. Heutige Wissenschaftler haben aber bis heute keinen genetischen Beweis für die Existenz bestimmter Menschenrassen gefunden (mal abgesehen vom Homo sapiens und seinen ausgestorbenen Verwandten, dem Homo neanderthalensis und Konsorten). Aufgrund der genetischen Vielfalt kommen sie eher zum Schluss, dass wir alle Teil einer Art sind, egal, welche Haut-, Haar- oder Augenfarbe wir haben.
Ein Migrantenkind zu sein wäre ja an sich auch nicht schlimm, wenn ich nicht ständig den Eindruck hätte, dass für die Unterscheidung von „Deutschen“ und „Migranten“ gerne auch genetische und kulturelle Gründe herangeführt würden mit der entsprechenden Wertung.
Und da bin ich wieder bei der Schule: Wie werden die Kinder in der Schule von Lehrern und Mitschülern behandelt? Werden sie eines Tages auf ihren „Migrationshintergrund“ angesprochen? Auf ihre „asiatische“ Mutter?
Wer wird ihnen beibringen, dass sie keine „reinen“ Deutschen, sondern „Migrantenkinder“ sind?
Denn machen wir uns auch hier nichts vor: die Kinder auf den alltäglichen Rassismus „vorzubereiten“ (denn nichts anderes ist es, wenn wir Menschen aufgrund vermeintlicher genetischer oder kultureller Unterschiede kategorisieren), wird den Kindern überhaupt erst bewusst machen, wie sehr sie Rassismus selbst betrifft. Um die Kinder gegen Rassismus zu wappnen, müssten wir sie erst mit Rassismus vertraut machen.
Aber halt: Warum müssen wir eigentlich die Kinder auf Rassismus vorbereiten? Warum arbeiten wir nicht daran, dass unsere Gesellschaft rassismusfrei wird? Anstatt unschuldige und ahnungslose Kinder zu wappnen, müssen wir den Rassismus in uns und unserer Gesellschaft bekämpfen, so dass wir eines Tages eine Generation von Kindern haben, die nicht mit alltäglichem Rassismus aufwachsen müssen, für die Rassismus tatsächlich eine Ausnahme ist.
Und würden wir das tatsächlich tun, dann bräuchten wir so einen Quatsch wie eine Willkommenskultur für Menschen mit sogenannten Migrationshintergrund nicht. In einer (weitestgehend) diskriminierungsfreien Gesellschaft würden sich alle Menschen willkommen und wohl fühlen.
So aber werden diese Kinder eines Tages erfahren, dass sie „anders“ sind, Alltagsrassismus erfahren, um dann – Jahrzehnte später – wieder willkommengeheißen zu werden.
Aber wer weiß, vielleicht suggerieren mir die Medien auch nur ein völlig falsches Bild von dem, was im Schulunterricht und in den Pausen oder im Alltag passiert, das zudem von meinen eigenen Erfahrungen geprägt ist.
Ich hoffe sehr, dass mein Freund und seine Familie sich nur über diese dumme Definition ärgern müssen und nicht noch mehr Grund zum Ärgern bekommen.