Im Magazin der Süddeutschen Zeitung, Heft 30/2015, erschien ein Artikel über „die“ Deutschen, ihr Verhältnis zum N-Wort und dem damit verbundenen Rassismus-Vorwurf: „In der Grauzone“.
Auf das Thema Rassismus selbst will ich hier nicht großartig eingehen. Mir fällt aber aufgrund der im Artikel beschriebenen Reaktionen und der Reaktionen im Netz wieder auf, wie vehement die Verwendung des N-Wortes verteidigt wird.
„Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte.“
So fängt eines der bekanntesten deutschen Märchen an. Ich kenne allerdings niemanden, der seinen Kindern diese Geschichte im Original vorliest. Tatsächlich ist in den meisten mir bekannten Versionen von einem Mädchen die Rede, nicht von einer Dirne. Dabei bedeutet das Wort Dirne im ursprünglichen Sinne doch einfach nur „Mädchen, junge Frau“.
Worte können im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung verändern. Dies zu ignorieren nenne ich fahrlässig. Niemand, den ich kenne, nennt heutzutage Mädchen oder junge Frauen „Dirne“, ohne sie damit in eine bestimmte Ecke zu stellen. Oder gibt es junge Frauen, Mütter und Väter, die damit kein Problem haben, wenn sie oder ihre Töchter als Dirne bezeichnet werden?
Dass neben der Dirne auch das altdeutsche Wort „wichsen“ in Kinderbüchern ausgetauscht wurde, darüber hat sich auch noch nie jemand beschwert (zumindest nicht, dass ich wüsste). Weil Eltern heutzutage ihre Kinder nicht mehr wichsen. Wäre es trotzdem für euch okay, wenn ich frage, ob ihr jemals von euren Eltern gewichst worden seid? Oder ob ihr eure Kinder ab und an wichst? Ihr wisst ja, ganz neutral und im ursprünglichen Sinne.
Ist es nicht auffällig, dass im Gegensatz zu Worten wie „Dirne“ oder „wichsen“ mit dem N-Wort oder dem M-Wort niemals ein_e Weiße_r Deutsche_r gemeint ist?
Fällt es deshalb Weißen Deutschen so leicht, das N-Wort zu verteidigen? Und sind sie deshalb so still, wenn es um Begriffe wie „Dirne“ und „wichsen“ geht?
Ich stelle mir das gerade vor: „Hey, ich bezeichne meine Töchter oder Schülerinnen als Dirnen! Und ich lasse mir von euch Gutmenschen nicht den gut gemeinten und altehrwürdigen Gebrauch des Wortes verbieten!“
Wenn jemand also in Zukunft euch, eure Freundinnen und Frauen oder eure Töchter Dirnen nennt, bekommt diese Person dann auch von allen Seiten Zustimmung und Schulterklopfen, weil sie sich nicht vorschreiben lässt, wie sie das Wort zu nutzen habe? Ist ja bestimmt nicht böse und nur im ursprünglichen Sinne des Wortes gemeint (Okay, in Süddeutschland könnte es wohl tatsächlich so gemeint sein…)!
Kommt es also wirklich nur darauf an, wie ein Wort gemeint ist und nicht, wie andere es verstehen (können)?
Im Artikel des SZ-Magazins wird auf Seite 3 gefragt: „Darf man Literatur, darf man Kunst ändern?“
Wenn ich mir die gewichste Dirne ansehe, dann lautet die Antwort für mich: Ja, natürlich!
Selbst die (Luther)Bibel wurde im Laufe der Zeit sprachlich verändert und angepasst, ohne dass das Christentum in Deutschland den Bach runtergehen würde. Und von den vielen Kinderbibeln will ich gar nicht erst reden („Eine Kinderbibel enthält eine Auswahl biblischer Texte, die in einer gegenüber dem Original vereinfachten Sprache abgefasst und in der Regel durch Abbildungen ergänzt sind.“). Natürlich wurde und wird Literatur schon immer für Kinder angepasst („Behutsam überarbeitet und gekürzt“).
Ebenfalls auf Seite 3 des Artikels im SZ-Magazin wird Otfried Preußler erwähnt:
„War sie [Astrid Lindgren] also so halsstarrig wie viele andere: Ich meine es nicht böse, also kann es nicht falsch sein? Nein, aus ihr sprach die Autorin, ähnlich wie aus Otfried Preußler, der seine »Negerlein« nicht aus der Kleinen Hexe tilgen wollte: Literatur unterwirft sich niemals dem Zeitgeist.“
Mir liegen bezüglich Otfried Preußler andere Informationen vor. In dem Artikel „‚Kleine Hexe‘ – Aus Negerlein werden Messerwerfer“ auf WELT Online vom 18.05.2013 wird die Tochter von Preußler zitiert, wonach er selbst einen Änderungsvorschlag gemacht haben soll:
„Preußler änderte dabei nach seiner 1998 formulierten Maxime: ‚Der Autor muss sich darüber im Klaren sein, welche sprachlichen Formen er beispielsweise einem Sechs- oder Siebenjährigen zumuten kann.‘ Die sechs- oder siebenjährigen Leser der allerersten ‚Kleinen Hexe‘ aber sind mittlerweile im Renteneintrittsalter. Die Kinder, die heute die ‚Hexe‘ lesen, sprechen ein anderes Deutsch und haben viel öfter als früher auch einen anderen ethnischen Hintergrund.
Und eben das – und nur das – war ausschlaggebend für die Streichung des N-Worts: Kein kleiner Leser der ‚Kleinen Hexe‘ sollte von der ‚Kleinen Hexe‘ beleidigt werden – das war das Motiv, das offenbar keinem der Änderungsgegner einleuchtete. […]
Und als Preußler – Großvater von acht ziemlich globalisierten Enkeln – das N-Wort nicht mehr verantworten konnte, hat er, so berichtet seine Tochter Susanne Preußler-Bitsch, Ende 2012 selbst einen Änderungsvorschlag gemacht: Aus den ‚beiden Negerlein‘, die in der ‚Kleinen Hexe‘ ja keine Schwarzen, sondern für den Fasching verkleidete Dorfjungen sind, sollten kleine ‚Messerwerfer‘ werden.“
Lange Rede, kurzer Sinn:
Alle, die sich nicht zu jenen mit rechtem Gedankengut zählen, aber trotzdem das N-Wort in Kinderbüchern verteidigen (wollen), bitte ich nur um eines:
Fragt euch selbst, warum, zum Kuckuck, wollt ihr ausgerechnet das N-Wort beibehalten, die gewichste Dirne aber nicht?
Zum Märchen von der Dirne geht es hier lang.
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