Wie Menschen auf eine andere Kultur vorbereitet werden

[Hinweis: einfachheitshalber benutze ich für diesen Artikel das generische Femininum, d.h. es sind stets sowohl Männer als auch Frauen und alle anderen, noch nicht benannten Geschlechter mitgemeint]

Wenn Unternehmen ihre Managerinnen in ein anderes Land schicken, um im Ausland Geschäfte zu tätigen, werden diese in der Regel gut darauf vorbereitet. Schließlich sollen sie dort mit den vor Ort lebenden Menschen kommunizieren und verhandeln und gute Geschäfte abschließen.

Die Beherrschung der Landessprache wäre dabei natürlich von Vorteil. Wenn das Gastland allerdings so „exotisch“ ist wie Korea, könnte es möglicherweise zu lange dauern, bis Managerinnen ein verhandlungssicheres Koreanisch sprechen. Mal davon abgesehen, dass neben dem gesprochenen Wort noch zahlreiche andere Aspekte die zwischenmenschliche Kommunikation prägen. Wer z.B. perfekt Koreanisch spricht, aber eine erhaltene Visitenkarte einfach schnell einsteckt, ohne sie vorher sichtbar und gründlich zu studieren, hat seine Erfolgschancen bereits dramatisch reduziert.

Damit es nicht zu solchen „Missverständnissen“ kommt, erhalten Managerinnen vor ihrem Auslandseinsatz häufig ein interkulturelles Training. Diese Trainings setzen ihren Schwerpunkt dabei eher auf das kulturelle Verständnis und Verhalten als auf die Sprache. Sicherlich, die wichtigsten Phrasen wie „Guten Tag“ oder „Danke schön“ sollte mensch kennen. Im Zweifel wissen die Gesprächspartnerinnen aber, dass sie es nicht mit einer Muttersprachlerin zu tun haben. Die Verständigung auf Englisch ist daher auf internationaler Ebene für den Anfang mehr als ausreichend. Wichtiger ist erst einmal das, was nicht durch Sprache ausgedrückt wird.

Wie ist nun so ein interkulturelles Training aufgebaut?

Während meiner Studienzeit habe ich für die internationale Studierendenorganisation AIESEC interkulturelle Vorbereitungsseminare für Studierende gegeben, die sich auf ein Auslandspraktikum vorbereitet haben. Unsere Seminare und Trainings liefen in der Regel von Freitag Nachmittag bis Sonntag Mittag und bestanden aus drei Teilen:

1. Reflektieren der eigenen Kultur.

Bevor mit uns mit anderen Kulturen beschäftigt haben, stand erst einmal die eigene Kultur im Focus. Was ist eigentlich Kultur, was wissen wir über sie, was wissen wir nicht – und vor allem: welchen Einfluss hat Kultur auf uns? Wie hat uns „Kultur“ im Laufe unseres Lebens geprägt, wie „deutsch“ sind wir eigentlich?

Warum ist das so wichtig? In der Theorie wird eine Kultur gerne als Eisberg dargestellt.

Eisberg-Modell

Eisberg-Modell

Das Bild soll vermitteln, dass der größte Teil einer Kultur nicht direkt sicht- und wahrnehmbar ist und quasi unter der Oberfläche bleibt, während nur ein wesentlich kleinerer Teil wirklich wahrgenommen wird. Zu den unsichtbaren Elementen einer Kultur zählen vor allem Grundwerte, Tabus, Rituale oder sonstige, für selbstverständlich gehaltene Verhaltensformen. Zu den sichtbaren Elementen zählen dagegen Kleidung, (religiöse) Symbole, Sprache, Spiele, aber auch konkrete Regelwerke und Gesetze, die bewusst ausformuliert worden sind.

Den sichtbaren Teil einer Kultur nehmen wir bewusst wahr. Der unsichtbare Teil äußert sich meist in Selbstverständlichkeiten, die wir nicht mehr hinterfragen. Z.B. geben wir uns bei der Begrüßung die Hand. Wissen wir aber noch, warum wir das tun? In der Regel denken wir nicht darüber nach. Es gehört sich einfach so. Punkt.

Genau das ist auch das Problem, wenn Menschen mit anderen Kulturen und Denkweisen in Berührung kommen. Auch die Menschen in Korea nehmen ihre „normalen“ Verhaltensweisen erst einmal als selbstverständlich hin. Darunter fallen auch ganz „banale“ Sachen: Als ich als Jugendlicher meine Verwandten in Korea besuchte, haben einige Cousinen damals beim Essen gekichert, weil ich mit geschlossenem Mund gegessen hatte. So habe ich es halt in Deutschland gelernt. In Korea fiel ich damit aber auf, weil die Koreanerinnen eher geräuschvoll essen, allein um zu signalisieren, dass das Essen schmeckt. Dabei ist das kein bewusst lautes Schmatzen, um irgendwen zu provozieren. Die Menschen aßen einfach nicht mit ganz geschlossenem Mund. Ob das heute noch so ist, kann ich nicht beurteilen.

Auch das Händeschütteln ist keine koreanische Tradition! Heutzutage geben sich Koreanerinnen zwar gerne die Hand zur Begrüßung, nur um zu zeigen, wie „modern“ sie geworden seien. Traditionell verbeugen sich die Koreanerinnen. Aber weil die Koreanerinnen wissen, dass sich Europäerinnen und US-Amerikanerinnen bei der Begrüßung üblicherweise die Hand geben, tun sie es jetzt auch. Und vermitteln möglicherweise den (falschen) Eindruck, dass dies ein typisches kulturelles Verhalten weltweit sei. Dem ist aber nicht so!

Wenn ich selbst Koreanerinnen treffe, gebe ich ihnen nicht unbedingt die Hand und gelte trotzdem nicht automatisch als unhöflich. Wenn jetzt allerdings nun Europäerinnen auf Koreanerinnen treffen und ihnen nicht die Hand geben, weil sie bei mir gelesen haben, dass dies nicht typisch sei in der koreanischen Kultur, beleidigen sie möglicherweise die Koreanerinnen, weil die Koreanerinnen dann den Eindruck gewinnen könnten, die Europäerinnen begrüßen die Koreanerinnen nicht wie ihresgleichen und betrachten sie damit nicht als gleichwertige Gesprächspartnerinnen.

Wenn sich verschiedene Kulturen begegnen, kann es halt kompliziert werden.

Weil dem so ist, ist es wichtig, sich im ersten Schritt bewusst zu machen, was Kultur alles beinhaltet und wie sich das auf unsere Wahrnehmung, Annahmen, unser Denken, unsere Erwartungen, unser Verhalten und unsere Gefühle auswirken kann. Denn wenn ich weiß, wie und warum ich mich so benehme, wie ich es tue, dann fällt es mir leichter zu verstehen, wie und warum Menschen aus anderen Kulturen sich so benehmen, wie sie es tun.

2. Kommunikation

Wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinandertreffen, kann es zu Problemen kommen, ohne dass den Beteiligten bewusst ist, wie und warum gerade ein Problem entstanden ist. Dies äußert sich z.B. durch einen zähen Verhandlungsverlauf, durch direkte Missverständnisse, durch unerwartete Reaktionen oder Verhandlungsergebnisse.

Nachdem die geschulte Geschäftsfrau etwas vom Eisberg-Modell gehört hat, ahnt sie vielleicht, dass das Problem unbewusst aufgrund unterschiedlicher kultureller Prägung entstanden sein könnte. Zwei Eisberge sind unten, im unbewussten Bereich aneinandergeraten, so dass die sichtbaren Spitzen zwar wanken, aber im ersten Moment nicht klar ist, warum.

Zwei Eisberge stoßen zusammen

Zwei Eisberge stoßen zusammen

Ein Beispiel: In der koreanischen Sprache gibt es das Wort „Nein“ nicht. Obwohl einige Sprachlehrbücher das Gegenteil vermitteln, handelt es sich beim koreanischen „Nein“ immer um die Verneinung des Wortes „sein“ (also „nicht sein“). Mein Unterbewusstsein sagt mir, eine Kultur wie die koreanische, in der die Menschen stets bemüht sind, sich so zu verhalten, dass eine Gesprächspartnerin nicht ihr Gesicht verliert, eine solche Kultur empfindet ein klares, direktes „Nein“ als unhöflich. So ein „Nein“ könnte nämlich der anderen Person den Eindruck vermitteln, sie hätte etwas falsch gemacht. Fehler sind peinlich und Peinlichkeiten können zum Gesichtsverlust führen. Ein direktes, hartes Nein kann daher von manchen sogar als regelrechte Ohrfeige empfunden werden.

Das hat auch Folgen für das Wort „Ja“. Wenn nun eine europäische Managerin ihre koreanische Gesprächspartnerin danach fragt, ob sie sich morgen wiedersehen, dann kann ein „Ja“ unterschiedliche Bedeutungen haben. Es kann bedeuten „Ja“, „vielleicht“ oder auch „Nein“. Je nach Kontext. Und wenn der Kontext nicht berücksichtigt oder falsch gedeutet wird, kommt es zum Zusammenstoß.

Es gibt Kulturen, in denen die Menschen etwas „blumiger“ reden, während sich deutsche Managerinnen fragen, warum diese Person nicht endlich mal zum Punkt kommt. Dies hat nicht zwangsläufig etwas mit persönlichen Schwächen („sie ist halt redselig“), sondern manchmal mit ihrer Kultur zu tun, in der die Menschen eine andere Kommunikation gewohnt sind.

So etwas zu klären kann nur funktionieren, wenn wir wissen, wie Kommunikation an sich funktioniert.
Mit die wichtigste Regel ist für mich dabei das 1. Axiom der menschlichen Kommunikation, das einst (neben vier anderen) von den Wissenschaftlern Janet H. Beavin, Don D. Jackson und Paul Watzlawick formuliert worden ist:

„Man kann nicht nicht kommunizieren!“

Das bedeutet: wenn mindestens ein Mensch einen anderen Menschen wahrnimmt, findet stets Kommunikation statt. Denn es ist unmöglich, nicht zu kommunizieren, weil jedes Verhalten einen kommunikativen Charakter hat. Da für Verhalten kein Gegenteil existiert, ist es auch unmöglich, nicht zu kommunizieren.

Vom 1. Axiom lassen sich alle weiteren Kommunikationsregeln ableiten, auf die ich hier nicht näher eingehen will. Nachdem wir im ersten Schritt gelernt und akzeptiert haben, dass unsere Kultur unser Verhalten prägt, ist es nun leichter zu verstehen, dass wir unbewusst immer kulturelle Signale senden, durch Gestik und Mimik, durch Kleidung oder Symbole. Signale, die in einem anderen kulturellen Umfeld nicht so interpretiert werden, wie sie in der Ursprungskultur verstanden werden.

Trotz des Wissens um unterschiedliche kulturelle Muster bleibt es nicht immer einfach zu erkennen, warum Missverständnisse oder andere Interpretationen erfolgen. Manchmal haben wir einen ersten Verdacht. Erst die Kommunikation darüber kann Aufklärung bringen. Wird nicht darüber gesprochen, werden Vorurteile und Stereotypen, also ungeklärte und ungesicherte Vorannahmen und Verallgemeinerungen unsere Reaktion beeinflussen.
Aber selbst wenn z.B. alle Deutschen die selbe Kultur teilen, handeln nicht alle aus denselben Motiven und Gründen. Dazu kommt, dass neben kulturellen Mustern immer auch individuelle Motive eine Rolle spielen. Beides voneinander zu trennen ist nicht einfach.

Noch spannender wird es, wenn Menschen wie ich mit zwei verschiedenen Kulturen aufwachsen. Welcher Aspekt welcher Kultur hat welches Verhalten von mir geprägt? Was ist ganz allein auf meine Persönlichkeit zurückzuführen?

Für eine gründliche Verhaltensanalyse müsste mensch verschiedene Schichten einer Person auseinandernehmen. Kompliziert. Daher kann es manchmal sinnvoll sein, nicht die kulturellen Unterschiede aufzuarbeiten, sondern einen neuen, gemeinsamen Standard zu etablieren. Z.B. kann in einem Unternehmen eine bestimmte Unternehmenskultur explizit eingeführt und gelebt werden, an die sich jede Mitarbeiterin im Unternehmen zu halten hat. Ein gemeinsamer Codex kann dabei nicht nur Verhaltensfragen klären, sondern sogar den Zusammenhalt stärken.

3. Konkretes Wissen über die Gastkultur

Die ersten beiden Inhalte unserer Trainings betreffen menschliches Verhalten im Allgemeinen und keine konkrete Kultur. Erst in einem dritten Schritt sind wir auf länderspezifische Eigenheiten eingegangen. Verhaltens- und Kommunikationsmuster, die typisch für ein bestimmtes Land sind, Do’s and Dont’s, hilfreiche Tipps fürs Kennenlernen und Leben vor Ort.

In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass die ersten Eindrücke am Anfang immer sehr aufregend sind, aber die Eindrücke auch schnell zu einer Überforderung und zu ersten Enttäuschungen führen können. Manche stoßen schneller an ihre eigenen Grenzen als andere, wenn es um die Anpassung an eine ihnen fremde Umgebung geht. Immerhin wird manchmal ein ganz anderes Verhaltensrepertoire gefordert als zuhause. Verhaltensweisen, die völlig entgegengesetzt sind als die, die mensch sonst gewohnt ist.
Stichwort: Kulturstress.
(Früher wurde der Begriff „Kulturschock“ verwendet. Er vermittelte allerdings den falschen Eindruck, dass jemand plötzlich durch die fremde Kultur geschockt sei. Dem ist meist nicht so. Der kulturelle Druck baut sich kontinuierlich auf, eher er zum Ausbruch kommt.)

Ein Handbuch oder ein Training reichen in diesem Moment vielleicht nicht aus. Hilfreich ist dagegen der Austausch mit anderen, die eine ähnliche Erfahrung gemacht haben oder schon länger im Gastland leben. Deswegen treffen sich Geschäftsleute im Ausland gerne mit Landsleuten oder anderen Menschen, die aus dem Ausland kommen und schon länger im Gastland leben. Manche fühlen sich unglaublich erleichtert, wieder mal unter „ihresgleichen“ zu sein. Derartige „Parallelgesellschaften“ stellen daher von Zeit zu Zeit ein wichtiges Druckventil dar, um dem permanenten Anpassungsdruck zu entkommen und neue Kräfte zu tanken.

Manche empfehlen das Führen eines Tagebuchs, um das Erlebte zu reflektieren und zu verarbeiten. Oder sich andere Nischen zu schaffen, in die mensch sich in Ruhe zurückziehen kann. Oder sich etwas typisch heimatliches zu gönnen. Wenn Deutsche, die früher dauerhaft in Korea wohnten, eine Gelegenheit fanden, deutsches Brot zu essen, war das für sie, als ob Ostern und Weihnachten auf den selben Tag fielen. Koreanerinnen essen traditionell Reis (morgens, mittags, abends). Und wenn sie mal Brot essen, ist dies normalerweise labbriges, amerikanisches Weißbrot.

Fazit:

Es hat lange gedauert, bis die Politik erkannt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist. Immerhin lebten bereits vor der Zunahme der Geflüchteten rund 16 Millionen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund in Deutschland.

Jetzt braucht es den politischen Willen, Strukturen aufzubauen, die die Menschen in diesem Land befähigen, mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten umgehen zu können. Das beschränkt sich nicht nur auf die sogenannten Migranten. Denn wenn wir ehrlich sind: Deutschland ist von seiner Geschichte her bereits ein Bund aus unterschiedlichen Kulturen. Deutschland besteht aus Rheinländern und Westfalen, aus Bayern und Franken, aus Friesen und Hessen, Saarländern und Sachsen, Thüringern und Schwaben, usw. Auch hier gibt es gravierende kulturelle Unterschiede. Wir sprechen noch nicht einmal alle gemeinsam Hochdeutsch, also eine gemeinsame deutsche Sprache.

Statt also eine kulturelle Einheit zu erzwingen, die kulturelle Unterschiede platt bügelt, so dass im Grunde auch jede Deutsche eine Verliererin ist, sollten wir einen kulturellen Rahmen entwickeln, der Diversität ermöglicht und zulässt.

Und dies muss bereits im Kindergarten beginnen. Interkulturelle Trainings beinhalten Elemente zu Kultur und Kommunikation, die für das zwischenmenschliche Verständnis im Allgemeinen hilfreich und wichtig sind. Warum sonst gibt es meterweise Ratgeber mit dem Tenor „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“? Dass interkulturelle Trainings mit diesen Grundlagen anfangen müssen, liegt daran, dass wir eben nicht von Kindheit an in diesen Dingen geschult werden. Leider.

Einigkeit und Einheit wünsche ich mir in Sachen Menschenrechte. Jede Art von Diskriminierung verletzt Menschenrechte. Leider ist die Einhaltung von Menschenrechten in Deutschland offenbar keine Selbstverständlichkeit. Das deutet zumindest ein Gutachten von 2015 im Auftrag des Bundesjustizministers Heiko Maas an. Danach berücksichtigen wohl deutsche Gerichte in ihren Urteilen, z.B. in Fällen von Rassismus, noch nicht ausreichend internationale menschenrechtliche Verträge, denen die Bundesrepublik beigetreten ist.
Gerade Menschenrechte können die ideale Basis für einen Prozess bilden, in dem wir uns als Gesellschaft auf Werte und Normen einigen, die kulturübergreifend gelten und die trotzdem ein friedliches Nebeneinander von subkulturellen Räumen zulassen.

Und genau darauf müssen integrationspolitische Debatten hinauslaufen: Wie schaffen wir eine Gesellschaft, die auf fundamentale Menschenrechte baut und in der alle Menschen eines Tages als Deutsche anerkannt und respektiert werden?

P.S. Wie hat euch das generische Femininum gefallen? Und „mensch“ statt „man“? Ungewohnt? Wenn ja, was sagt uns das über unsere kulturelle Prägung? Was ist selbstverständlich, was nicht?

Veröffentlicht von Daniel Sanghoon

Hi, ich bin Daniel Sanghoon Lee. Hier schreibe ich auf, was mich als Koreaner der zweiten Generation beschäftigt. Die Kommentarfunktion ist bis auf weiteres abgeschaltet (Stichwort DSGVO).