Der Basketball-Kommentator André Voigt besucht das Fußballländerspiel zwischen Deutschland und Serbien. Dabei fallen ihm drei Zuschauer mit ihren rassistischen Äußerungen auf. Als er die drei darauf anspricht, erlebt er, wie die anderen Zuschauer um sie herum sich entweder auf die Seiten der Rassisten schlagen oder einfach nur unbeteiligt stumm bleiben.
Nachdem ich auch das im Artikel verlinkte Video gesehen und gehört habe, kommt mir im Nachgang folgender Gedanke:
Voigt vergleicht die Atmosphäre in seinem Stadionabschnitt „wie beim AfD-Parteitag“. Leute, die rassistisch sind, Leute, die die Rassisten dabei noch anfeuern.
Doch was ist mit denen, die einfach nur stumm bleiben?
Ich kann mir gut vorstellen, dass in einer solchen Situation, in einer solchen Atmosphäre, auch und gerade die stummen Zuschauer Voigts Eindruck verstärken, die Rassisten seien in der Mehrheit.
Und auch die Rassisten fühlen sich vielleicht bestärkt, weil, wenn jemand nicht gegen sie ist, dann muss er ja für sie sein.
Dabei gibt es noch eine dritte Wahrnehmung, die ich wiederum für die wahrscheinlichste halte: Diejenigen, die schweigen, tun dies, weil sie sich einreden, sie seien „politisch neutral“.
Wenn zwei Personen sich streiten und du für keine der Seiten Partei ergreifen willst, dann hältst du dich in der Regel aus dem Streit raus. Du äußerst dich nicht, du zeigt weder der einen noch der anderen Seite, dass du für oder gegen sie bist. Das ist eigentlich ein normales Verhalten, wenn es um einen Streit geht, bei dem es weder ein „richtig“ noch ein „falsch“ gibt, sondern lediglich zwei verschiedene Perspektiven.
So eine Haltung kann auch gut sein, um einen Streit nicht eskalieren zu lassen und um den Streitenden zu zeigen: ihr seid allein mit eurem Streit, niemand interessiert sich für euren Streit, nun beruhigt euch wieder.
Ich habe den Term „politisch neutral“ hier bewusst zwischen Anführungsstrichen gesetzt, denn:
Handelt es sich bei einem Streit um Rassismus lediglich um eine Auseinandersetzung, in der nur zwei verschiedene, gleichwertige Perspektiven aufeinanderprallen?
Ich denke, nein.
Punkt 1: Ob der Spieler Leroy Sané als N… beschimpft werden kann oder nicht, ist keine Frage von derselben Qualität wie „sind Hunde die besseren Haustiere oder doch eher Katzen?“. Was sich im Stadion abspielte, berührt unsere Grundwerte: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und Rassismus (wie auch jede andere Form der gesellschaftlichen Diskriminierung) verletzt diesen Grundwert.
Die Frage nach Hunden oder Katzen ist dagegen eine harmlose Frage und reine Geschmacksache. Die Frage nach der Würde des Menschen nicht. Bei Fragen nach der Würde des Menschen kann es daher keine Neutralität geben, sondern nur ein Für oder ein Wider.
Deswegen ist ein Streit um Rassismus kein Streit, in dem irgendein Mensch neutral sein kann.
Punkt 2: Es fing als Streit zwischen Voigt und drei weiteren Zuschauern an. Es ist nicht dabei geblieben, sondern andere haben sich auf die Seite der drei Rassisten gestellt. Somit ist der Streit eskaliert. Es war kein Streit mehr zwischen wenigen Einzelpersonen. Ebenfalls ein Grund, sich einzumischen, dafür zu sorgen, dass der Streit nicht weiter eskaliert. Z.B. indem die „Stummen“ einfach mal aufstehen und die Beteiligten böse anschauen. Wenn die Rassisten merken, dass sie nicht in der Mehrheit sind, werden auch diese wieder etwas leiser.
Punkt 3: Durch die Einmischung weiterer Zuschauer kam es zu einer deutlichen Machtverschiebung. Ein Mensch gegen drei ist schon mutig. Aber ein Mensch gegen eine ganze Gruppe von Menschen, die scheinbar immer größer wird?
Das ist ein so offensichtlich ungleicher Kampf, bei dem es am Ende gar nicht mehr um die „Meinung“ geht, sondern nur darum, den „Gegner“ zu vernichten. Weswegen ich froh bin, dass Voigt am Ende nicht noch verprügelt worden ist.
Wenn ich also Zeuge werde, wie eine einzelne Person von einer Gruppe von Menschen in Bedrängnis gebracht wird, wie kann ich da „neutral“ oder unbeteiligt bleiben? „Neutralität“ ist hier gleichbedeutend mit „im Stich lassen“. Neutralität würde zwei streitenden Parteien die gleiche Macht zugestehen, damit ein Konflikt fair ausgetragen werden kann. Alles andere ist nicht mehr neutral.
Möglicherweise liege ich in meiner Vermutung falsch, dass die „Stummen“ meinen, sie seien einfach nur politisch neutral. Vielleicht waren die „Stummen“ tatsächlich doch Sympathisanten der Rassisten.
Ich will aber nicht glauben, dass alle, die ihre Stimme nicht erheben, in Wirklichkeit hinter dem Rassismus hierzulande stehen.
Ich befürchte vielmehr, dass wir unseren persönlichen Bezug zu unseren Grundwerten und unserem Grundgesetz schon längst verloren haben und daher „richtig“ und „falsch“ nicht mehr erkennen können.
Für mich ist „richtig“, was im Einklang mit den Menschenrechten steht, und „falsch“, was Menschenrechte verletzt. Die Frage, ob Hund oder Katze das bessere Haustier sei, berührt die Menschenrechte nicht, daher gibt es hier kein „richtig“ oder „falsch“.
Wenn Du Angst hast, Haltung zu zeigen, weil du dich nie richtig mit den Menschenrechten oder unserem Grundgesetz auseinandergesetzt hast, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, sich mit Menschenrechten und deinen Werten auseinanderzusetzen.
Denn 1. niemand von uns wird mit diesem Wissen geboren.
Wir alle müssen uns damit auseinandersetzen, müssen uns mit unseren Rechten beschäftigen. Menschen wie ich, sogenannte People of Colour bzw. Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund, sehen uns vielleicht eher gezwungen, uns mit Menschenrechten auseinanderzusetzen, weil wir immer mehr Ziel von Rassismus werden. Wenn du dich deswegen noch nie mit Menschenrechten beschäftigt hast, dann bist du bisher privilegiert aufgewachsen. Mache dir bitte bewusst, dass nicht alle dieses Glück haben.
Mir wurden meine Privilegien bewusst, als ich mich z.B. mit Sexismus und Feminismus beschäftigt habe. Viele Situationen, von denen Frauen berichten, habe ich nie erlebt. Und ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Frauen manche Alltagssituationen ganz anders erleben. Z.B. der Heimweg nach Hause nach der Arbeit vor allem im Winter, wenn es schon dunkel ist, und Frauen dann manchmal einen Umweg in Kauf nehmen, nur, um sich sicher zu fühlen. Wäre mir als Mann nie in den Sinn gekommen.
Oder dass Treppen nicht nur manchmal lästig sind, sondern für Andere ein unüberwindbares Hindernis darstellen. Die Tatsache, dass ich mir darüber keine Gedanken machen muss, bedeutet ein Privileg im Gegensatz zu Menschen im Rollstuhl.
2. Wir alle machen Fehler.
Auch das ist nichts Schlimmes. Wir alle, auch ich, befinden uns im Lernprozess. Auch ich mache Fehler. Und auch da bleibt mir nichts anderes übrig, als um Entschuldigung zu bitten und zu lernen, meine Fehler in Zukunft zu vermeiden. Wenn mir Fehler vorgeworfen werden, versuche ich, mich zurückzuhalten, mich nicht zu rechtfertigen (was nicht einfach ist, weil auch ich in vielen Fällen erst einmal von einem Missverständnis ausgehe und manchmal erst begreifen muss, wo ich einen Fehler gemacht haben könnte), zu reflektieren, um Feedback zu bitten, die Meinung Dritter einzuholen und zu prüfen, ob mein Verhalten mit meinen Werten (Menschenrechte!) im Einklang steht. Schlimm ist nur, seine Fehler nicht eingestehen zu können. Fehler, gerade im wirtschaftlichen Bereich, werden in Deutschland meist negativ gesehen im Gegensatz zu den USA. Daher denke ich, dass wir in Deutschland eine ganz neue Fehlerkultur benötigen.
3. Wenn du dich jetzt nicht mit Menschenrechten auseinandersetzt, wenn du jetzt keine Haltung entwickelst, werden nur diejenigen mit der „falschen“ Haltung (im Sinne von Menschenrechte verletzend) gestärkt.
Wir erleben, dass Menschen immer mehr propagieren, dass wir in einer Gesellschaft mit Denkverboten leben würden. Damit soll das bisher „Unsagbare“ wieder sagbar werden. Viele begreifen anscheinend nicht, dass wir hier keine Denkverbote haben, sondern (Grund)Werte, mit denen die „Gedanken“, die hier angeblich verboten seien, einfach nicht im Einklang stehen.
Das ist so, als ob diese Menschen rufen würden, in Deutschland gäbe es „Handlungsverbote“, die unsere Handlungsfreiheit einschränken. Z.B. unsere „Freiheit“, anderen einfach so ins Gesicht zu schlagen. Dass wir andere nicht einfach so schlagen dürfen, ist keine Einschränkung unserer Handlungsfreiheit, sondern ein Schutz unserer Werte.
Gegen Rassismus (und jede andere Form von Diskriminierung) helfen mir mehr Wissen, das Bewusstmachen meiner Werte, die Reflexion meines eigenen Verhaltens und der Austausch mit Anderen, um bei der nächsten Auseinandersetzung selbstbewusst gegen Diskriminierung aufstehen zu können. Denn es gibt keine Denkverbote, sondern nur Meinungen, die entweder im Einklang oder im Widerspruch zu unseren Werten stehen.
4. Fange ruhig mit kleinen Schritten an.
Fange z.B. an, rassismuskritische Seiten auf Facebook zu folgen und deren Artikel zu liken. Das erhöht sowohl die Präsenz solcher Artikel als auch die Sichtbarkeit Deiner Haltung.
Ich höre und lese immer wieder, dass Freunde auf Facebook toll finden, was ich so alles poste. Aber sie liken meine Postings nicht. Wenn du dazu gehörst, frage dich: Warum? Hast du Angst, dich in der Öffentlichkeit zu zeigen? Warum?
Als ich angefangen habe, rassismuskritische Artikel zu posten, hatte ich durchaus Angst vor kritischen Kommentaren. Wie mit diesen umgehen? Werde ich immer passende Argumente finden gegen rechtes Gedankengut? Kann ich immer den Versuch entlarven, rechtes Gedankengut einfließen zu lassen?
Die Wahrheit ist, so viele Kommentare habe ich bislang nicht erhalten, bei denen ich mich in irgendeiner Weise hilflos gefühlt habe. Vielmehr hilft mir in solchen Fällen immer, Nachfragen zu stellen. Wie meinst du das? Wie definierst du Rassismus und warum? Wie steht das im Einklang mit der Würde des Menschen?
5. Ich lese mehr zu diesen Themen und achte darauf, vor allem Texte von Menschen zu lesen, die Ziel von Diskriminierung sind.
Ihre Perspektive ist meist authentischer als die Stimen derer, die bezüglich der betreffenden Diskriminierung nicht direkt betroffen und damit privilegiert sind. Ich versuche dabei, nicht nur bei einer Diskriminierungsform zu bleiben. Das hilft auch, Diskriminierung nicht als Einzelphänomen zu begreifen, sondern als zusammenhängende gesellschaftliche Struktur.
6. Ich fange an zu hinterfragen, was ich bislang gelernt oder gehört habe.
Denn in einer nicht-diskriminierungsfreien Gesellschaft ist niemand von uns frei von irgendwelchen ~ismen (auch ich nicht). Ich kann sowohl Ziel als auch Ursache von Diskriminierung sein. Insofern muss ich mir von Zeit zu Zeit auch meine eigenen Privilegien und meine eigene Macht bewusst machen.
Das ist nur ein kurzer Einblick in meine Entwicklung. Vor 15 Jahren habe ich selbst noch gedacht, Rassismus betreffe vor allem die „Türken“, mich „Asiaten“ dagegen so gut wie gar nicht. Bis ich angefangen habe, mich mit Rassismus näher auseinanderzusetzen. Weil ich in einer Online-Diskussion plötzlich einem rechten Schreiber nichts Vernünftiges mehr entgegenzusetzen hatte.
Wenn ihr Angst habt, dass euch Ähnliches passieren kann, dann wisst ihr ja jetzt, was ihr tun könnt.
Stumm und unsichtbar bleiben hilft uns allen nicht weiter.
Denn eine „politische Neutralität“ in Bezug auf Rassismus und damit auf Menschenrechte gibt es einfach nicht.