Aufstieg und Habitus

In einem Interview in der ZEIT erklärt Professor Michael Hartmann, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der ein gesellschaftlicher und beruflicher Aufstieg nicht allein vom Bildungsgrad abhängt, sondern die Herkunft immer eine Rolle spiele. Damit spricht er etwas aus, was viele schon immer geahnt und gewusst haben. Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund trifft dies sogar doppelt.

Aber sobald der Hochschulabschluss in der Tasche ist, zählt vor allem der richtige Stallgeruch. In der Soziologie nennen wir das Habitus: Das Wissen um die versteckten Regeln und Mechanismen an der Spitze, um das, was dort en vogue ist, ein breiter bildungsbürgerlicher Horizont, souveränes Auftreten. Das bevorzugt Kinder aus dem Bürger- und Großbürgertum.
[…]
Ganz zu schweigen von der Selbstverständlichkeit, mit der gerade Kinder aus dem Großbürgertum agieren.

Quelle: „Vor allem zählt der richtige Stallgeruch“, ZEIT online, 28.02.2013

Habitus halt. Im Sinne von Norbert Elias die „Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Handeln, die Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind“. In diesem Fall der Gruppe, die nicht die Elite bildet, die kollektiv nicht gelernt hat, sich elitär zu verhalten.

Wenn das Bürger- und Großbürgertum einen bestimmten Habitus besitzt, dann bedeutet dies im Umkehrschluss, dass auch die Arbeiterschicht einem bestimmten Habitus folgt, der sich offenbar deutlich von dem des Bürger- und Großbürgertum unterscheidet. Und weil Arbeiterkinder ein anderes Verhalten gelernt und verinnerlicht haben, müssen sie sich einen neuen Habitus aneignen. Die Selbstverständlichkeit der Kinder aus dem Großbürgertum, die diesen Habitus schon von Kindheit an verinnerlicht haben, fehlt damit. Und das merkt mensch.

Nicht viel anders geht es Menschen aus anderen Kulturkreisen, sogenannten Menschen mit Migrationshintergrund. Ob hier in Deutschland aufgewachsen oder nicht, wenn die Eltern aus einem anderen Kulturkreis stammen und noch einen gehörigen Einfluss auf die Erziehung ihrer Kinder haben, dann setzt sich ein Teil des elterlichen Denkens in ihren Kindern unbewusst fest. Wie deutsch die Kinder sich später auch fühlen mögen.

Das Interview mit Professor Hartmann erinnert mich an den Artikel „Paper Tigers“ eines US-Amerikaners mit koreanischen Wurzeln im New York Magazine. Der Artikel erschien kurz nach der Veröffentlichung von Amy Chuas Buch „Battle Hymn of the Tiger Mother“ („Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kinder das Siegen beibrachte“ – Das Buch hat im Westen den Zorn vieler Eltern erregt, ich habe mich darüber köstlich amüsieren können) und wies auf folgendes hin:

According to a recent study, Asian-­Americans represent roughly 5 percent of the population but only 0.3 percent of corporate officers, less than 1 percent of corporate board members, and around 2 percent of college presidents.

Quelle: Paper Tigers, New York Magazin online, 08.05.2011, S. 4

Nicht nur der Anteil der Asian-Americans an der Gesamtbevölkerung ist höher als deren Anteil in Führungspositionen. Auch der Anteil der Asian-Americans an den US-Hochschulen ist relativ hoch. Trotzdem findet deren akademischer Fleiß keinen erkennbaren Niederschlag in Wirtschaft und Politik.

In dem (sehr langen) Artikel wird anhand von Beispielen erklärt, dass der konfuzianische Habitus aus Menschen wie mir wunderbare Lern- und Arbeitsmaschinen macht, aber uns als Führungskräfte eher disqualifiziert:

He offered the example of Asians who don’t speak up at meetings. ‚So let’s say I go to meetings with you and I notice you never say anything. And I ask myself, ‘Hmm, I wonder why you’re not saying anything. Maybe it’s because you don’t know what we’re talking about. That would be a good reason for not saying anything. Or maybe it’s because you’re not even interested in the subject matter. Or maybe you think the conversation is beneath you.’ So here I’m thinking, because you never say anything at meetings, that you’re either dumb, you don’t care, or you’re arrogant. When maybe it’s because you were taught when you were growing up that when the boss is talking, what are you supposed to be doing?
Listening.

Quelle: Paper Tigers, New York Magazin online, 08.05.2011, S. 5

Was Konfuzius wirklich gelehrt und gemeint hat, weiß in Korea übrigens kaum jemand mehr. Seine Lehren sind meines Wissens kein fester Bestandteil des Bildungskanons (fast schon vergleichbar mit dem Wissen um Ostern hierzulande: jeder feiert hier Ostern, aber kaum ein [junger] Mensch weiß noch, warum). Was aber hängengeblieben ist, ist folgendes:

Das Kind gehorcht dem Vater.
Der Schüler gehorcht dem Lehrer.
Der Arbeiter gehorcht dem Chef.
Der Bürger gehorcht dem Staat.

Diese unbewusste Grundeinstellung, dieser Habitus, führt letztendlich dazu, dass asiatisch-konfuzianisch geprägte Kinder sich manchmal (häufig?) schwer tun, sich als Führungskraft zu profilieren, wenn sie in einem hierarchischen System stecken. Die Selbstverständlichkeit eines solchen Profilierungsverhaltens fehlt und muss dann individuell erkämpft werden. Vielleicht sogar gegen die eigene „Natur“, sprich, ein solches Profilierungsverhalten fühlt sich möglicherweise falsch an. Das „Stummsein“ von „Asiaten“ ist dabei nicht mit Schüchternheit zu verwechseln.
(Wichtiger Hinweis: Auch in asiatischen Ländern gibt es natürlich Eliten mit einem eigenen Habitus, was erklärt, warum in diesen Länder selbstverständlich auch Führungskräfte vorhanden sind. Nur, nach Deutschland sind aufgrund der Anwerbeabkommen in der Regel keine Eliten gekommen, sondern einfache Arbeiter.)

Die Kämpfe um einen neuen Habitus spielen sich für Kinder koreanischer Eltern übrigens nicht nur in der deutschen/westlichen (Berufs)Welt ab. Sie finden auch häufig in der Familie zwischen der 1. und der 2. Generation statt. Auch ein Grund, warum Integrationskonflikte mit asiatischstämmigen Menschen weniger bekannt sind. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

Veröffentlicht von Daniel Sanghoon

Hi, ich bin Daniel Sanghoon Lee. Hier schreibe ich auf, was mich als Koreaner der zweiten Generation beschäftigt. Die Kommentarfunktion ist bis auf weiteres abgeschaltet (Stichwort DSGVO).

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