Gerade lese ich einen Artikel in der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft:
«Das Gehirn orientiere sich bei Entscheidungen an vergangenen Erfahrungen, erläutern die Wissenschaftler. FeldmanHall vergleicht die Lernprozesse mit denen des pawlowschen Hundes, der beim Ertönen einer Glocke immer wieder Futter bekommt, bis ihm schließlich schon beim Glockenton allein das Wasser im Mund zusammenläuft. Demnach würden Menschen ihr Vertrauen zu fremden Menschen zumindest teilweise auf das simpelste Lernprinzip gründen: die klassische Konditionierung.»
Eigentlich geht es um das generelle Verhalten von Menschen, wenn sie fremden Menschen begegnen. Warum vertrauen wir der einen Person eher als der anderen?
Die Antwort ist laut einer Studie: klassische Konditionierung.
Bei der klassischen Konditionierung wird ein neutraler Reiz (neutral, d.h. der Reiz löst normalerweise keine Reaktion aus) mit einer bestimmten Erfahrung gekoppelt, so dass der vorher neutrale Reiz nicht mehr neutral ist, sondern eine bestimmte Reaktion auslöst, die mit der bestimmten Erfahrung zusammenhängt.
In Bezug auf Integration:
Wissen wir alle, wie wir konditioniert worden sind (und noch werden)?
Was, wenn die Konditionierung lautet:
„Weißer“ (deutschsprechender) Mensch = Deutscher = normaler Mensch = keine Gefahr
„asiatischer“ (deutschsprechender) Mensch = kein Deutscher = nicht der Norm entsprechender Mensch = interessanter Exot oder potenzieller Verbrecher
Als wir im Kindergarten waren, hat uns da die Hautfarbe der anderen Kinder interessiert?
Nein.
Denn die Farbe der Haut ist ein Reiz wie die Haarfarbe oder die Augenfarbe. Sie ist da, hat aber eigentlich keine Bedeutung, wenn es um die Frage geht, kann ich mit dem Kind spielen oder nicht.
Wenn wir nun die Erfahrung machen, dass „Weiße“ Kinder Deutsche und alle Kinder mit einer anderen Hautfarbe alles Mögliche, nur nicht „deutsch“ sind, dann wird aus einem ehemals neutralen Reiz ein bedeutungsvoller Reiz, der eine bestimmte Reaktion auslöst.
Diese Reaktion wird auch noch verstärkt, wenn die vermeintliche Hautfarbe stellvertretend für ein Land, eine Kultur oder gar einen ganzen Kontinent stehen soll.
Wenn z.B. ständig von den „Leistungsdefiziten“ türkeistämmiger Kinder gesprochen wird, kann das dazu führen, dass „deutsche“ Eltern ihre Kinder nicht so gerne mit „Türkenkindern“ spielen lassen wollen.
An einigen Schulen ist der Anteil der „Migrantenkinder“ so hoch, dass auf dem Schulhof mehr Türkisch als Deutsch gesprochen werde. Eine Lösung wäre, die „Migrantenkinder“ auf andere Schulen mit einem geringen Anteil an Kindern mit sogenanntem Migrationshintergrund zu verteilen, so dass die Integration in die deutsche Gesellschaft besser funktionieren könne. Was zunächst nach einer sehr pragmatischen Lösung klingt, löst auch Widerstand aus. Ich kann mich an die Aussage einer deutschen Mutter erinnern, dass sie zwar die Verteilung begrüße, dass aber die Klasse ihrer Kinder bitte verschont bleiben solle. Ihre Kinder seien ja schließlich keine Sozialarbeiter.
Als „asiatisch“ gelesener Mensch habe ich während eines Schülerpraktikums folgende Erfahrung gemacht: Ein deutscher Lehrer erzählte mir mit einem Augenzwinkern, dass deutsche Eltern es gerne sehen würden, wenn ihre eigenen Kinder mit asiatischen Kindern befreundet seien. Schließlich seien asiatische Kinder intelligent, fleissig, diszipliniert, ehrgeizig. Und es wäre schön, wenn das auch auf die eigenen Kinder abfärben würde.
In beiden Fällen herrscht der Glaube vor, diese, nicht der „deutschen“ Norm entsprechenden, weil nicht „weißen“ Kinder repräsentieren ein zugeschriebenes Verhalten („fremde“ = unerwünschte Kultur), das dann zwangsläufig auf das Verhalten der eigenen Kinder abfärben müsse.
Tatsächlich sagt meine „Hautfarbe“ nichts, aber auch rein gar nichts über meine Wertvorstellungen, über meine Begabungen, über meinen Charakter, über meine Vorlieben, über meine Ansichten aus.
Hier findet eine Konditionierung statt, wenn Eltern ihre Kinder nach den „türkischen“ oder „asiatischen“ Mitschüler_innen fragen und damit dem Aussehen bzw. der Herkunft eine Bedeutung geben, die lautet: Nicht-Deutsch.
Diese Konditionierung wird laufend verstärkt durch die Medien.
Wie werden „Deutsche“ z.B. im Fernsehen dargestellt? Wie werden Menschen wie ich in deutschen Filmen dargestellt? Welche Namen haben wir, wie sprechen wir? Mit künstlichem Akzent, um „glaubwürdig“ zu sein?
Was passiert, wenn wir in den Nachrichten immer wieder den sogenannten (und häufig gar nicht vorhandenen) „Migrationshintergrund“ betonen?
Auch wenn wir intellektuell vielleicht verstanden haben, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, so werden wir immer noch darauf konditioniert, in den Kategorien „wir“ und „die“ zu denken.
Und genau diese Konditionierung ist in meinen Augen einer der Hauptgründe, warum wir nicht zusammenwachsen.
Wenn z.B. ein Thomas Gottschalk einen rassistischen Tweet verfasst, dann nicht deshalb, weil er ein Rassist ist, sondern weil er so konditioniert worden ist.
Wenn Menschen den Körper einer Politikerin gehässig kommentieren, dann, weil sie in dieser Gesellschaft so konditioniert werden, dass vor allem Frauen gewissen Standards zu entsprechen haben.
Um derartige Diskriminierungen nachhaltig zu bekämpfen, müssen wir uns erst einmal ehrlich bewusst machen, mit welchen Werten wir tatsächlich aufwachsen.
Würden wir wirklich mit Werten wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ aufwachsen, dann würden wir neutrale Erscheinungen wie die Hautfarbe oder die Körperform nicht mit bestimmten Werten und Reaktionen verknüpfen, zu denen es keine natürliche Verbindung gibt (z.B. fett = faul, Asiate = intelligent).
In dem oben zitierten Artikel der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft wird angedeutet, dass die klassische Konditionierung zumindest teilweise unser Verhalten gegenüber fremden Menschen erklärt.
Natürlich können auch bewusste Erfahrungen und konkrete Ereignisse unsere Vorurteile bilden.
Allerdings denke ich, dass der Lernprozess in unserer Kindheit uns noch stärker prägt. Wenn wir alles unreflektiert aufsaugen, was uns unsere Umwelt vermittelt, ohne in der Lage zu sein, diese Konditionierung zu erkennen und zu hinterfragen.
Denn zum Hinterfragen brauchen wir Werte, nach denen wir uns richten können.
Nur, als Kinder müssen wir erst einmal unser Wertesystem bilden.
Wir werden nicht als Rassisten geboren.
Aber auch nicht als Heilige.